
Idomeni, 22. – 24. Mai 2016
„Einst sah Jupiter dieses wunderschöne Mädchen und er beschloss, brennend vor Liebe, auf die Erde hinunter zu steigen, um Europa näher zu sein. Europa aber und ihre Freundinnen waren zur Küste gegangen…“
Wieder einmal hat die Polizei mich die Brücke nach Idomeni nicht passieren lassen. Wieder einmal mit anderen Argumenten. Vorherige Woche hieß es, es sei militärische Sperrzone. Jetzt gehöre ich nicht zur richtigen Organisation. Die griechischen Behörden ziehen demnach ihren Fünf-Punkte-Plan durch. Erst schränken sie den Zugang für Ehrenamtliche ein, dann den für die Presse. Wurde die Demokratie nicht in Griechenland erfunden? Und was ist mit Europa, dem dunklen, dunklen Land? Was ist aus dem bildschönen Mädchen geworden, in das sich Jupiter einst verliebte?
Tatsächlich werden schon in den Tagen zuvor einige der Gruppen, die die Menschen mit Nahrungsmittel versorgen, nicht nach Idomeni gelassen. Die Räumung wird vorbereitet. Das Wundpflaster wird langsam abgezogen. Als würden wir das nicht merken. Schließlich dürfen nur noch sechs NGOs mit jeweils fünf Mitarbeitern und zwei kleinere Hilfstruppen das Areal betreten, um die über 8.000 Menschen medizinisch sowie mit Essen und Trinken zu versorgen. Der Großteil der Flüchtlinge sind Familien, darunter viele Babies und Kleinkinder. Zeitweilig sperren die Behörden auch das Wasser ab. Die Presse und die meisten freiwilligen Helfer müssen draußen bleiben. Wer trotzdem noch da, wird von Zivilfahndern aufgespürt und herauskomplementiert. Kurzfristige Verhaftungen werden androht und durchgeführt.
Auch Sou, die sich selbst als Traveller und Aktivistin bezeichnet und ihren richtigen Namen nicht veröffentlicht haben will, wird verhaftet. Drei Tage hält sich die ehrenamtliche Helferin bei ihren syrischen Freunden in Idomeni versteckt. Zur Tarnung trägt die Berlinerin mit dem blonden Haar einen Hijab. „Ich wollte in den letzten Tagen einfach nur da sein für die Familie“, sagt sie. „Ich wollte sie noch eine Zeitlang begleiten, bevor sie ins Militärlager und wir uns verabschieden müssen.“
Eko Gas Station bei Polykastro, 25. Mai 2016
Ein paar Menschen sammeln sich an der Einfahrt einer Autobahn-Tankstelle und diskutieren aufgeregt auf Kurdisch und Arabisch. Zum wiederholten Male stehen Polizeiwagen und ein leerer Militärbus direkt neben dem improvisiertem Flüchtlingslager an Eko-Tankstelle. Die Beamten stehen neben ihren Dienstwagen, unterhalten sich in aller Seelenruhe miteinander, ignorieren die aufgebrachten Menschen, die nur wenige Meter von ihnen entfernt stehen. Einer der Polizisten schlürft Kaffee aus einem Pappbecher. „Was wollen die? Es ist doch nichts passiert“, sagt Ela, die junge Kurdin. Sie ist sichtlich verunsichert. Doch weder sie noch die Anderen trauen sich die Beamten anzusprechen und zu fragen. Gleichzeitig kreisen seit Tagen Drohnen über die Tankstelle an der E 75.
Als wir auf die Beamten zugehen und nachfragen, wiegeln sie ab. „Reine Routine. Wir kontrollieren nur die Autos“, sagt der eine. Es ist Mittwoch, der zweite Tag der dreitägigen Räumung von Idomeni, das etwa 15 Kilometer von Tankstelle entfernt liegt. „Und warum erklären Sie das den Leuten nicht? Die Menschen haben Angst.“ Der Polizist zuckt mit den Schultern. „Keine Zeit“, erwidert er. „Sagen Sie das denen doch!“ Dann dreht er sich wieder um. Wir gehen zurück zu Ela, berichten, was die Polizisten sagt haben. Und fügen hinzu, dass das Zentrum an der Eko-Tankstelle wahrscheinlich auch bald geräumt werden wird. Wenige Tage später verkündet der stellvertretende Minister für Zivilschutz, Nikos Toskas in einen Radiointerview, dass das Zentrum an der Tankstelle in wenigen Tagen evakuiert werden wird. „Und was ist, wenn wir nicht wegwollen?“, fragt Ela. Die Skepsis der jungen Frau ist verständlich. Spätestens seit immer mehr Berichte von Flüchtlingen und freiwilligen Helfern darüber auftauchen, in welch verheerendem Zustand sich die offiziellen, vom Militär verwalteten Sammelunterkünfte befinden.
„Ich kann meine Wut und mein Entsetzen kaum in Worte fassen“, sagt Sainab, eine freiwillige Helferin aus London. Sie hat gerade eines der „neuen“ Militärlager besucht – Softex in der Nähe der Hafenstadt Thessaloniki. „Idomenis uglier, dirtier little brother“, nennt die Engländerin das Auffanglager. Sie selbst musste als als Kind aus Somalia flüchten. „Es gibt keine Duschen und nur ein paar wenige Toilettenkabinen für mehr als 1000 Leute“ In den vergangenen Tagen ist es heiß im Norden von Griechenland mit Temperaturen um die 30 Grad. „ Und die Flüchtlingen konnten seit vier Tagen nicht duschen.“ Zudem habe es drei Tage lang keinen Strom gegeben und das Essen sei schlechter als das, was man im Gefängnis bekomme. Eine syrische Mutter erzählt ihr, sie würde lieber schnell in ihrem Heimatland sterben, als hier so lange leiden zu müssen. Sanaib kommen unter ihrer Sonnenbrille die Tränen.
Viele der neuen Unterkünfte liegen fernab auf dem Land oder in entlegenen Fabrikhallen – ohne Infrastruktur. Eine andere Helferin berichtet von einem Camp, in dem die Menschen mehr als zwei Stunden auf den Notarzt warten mussten. Medizinische Versorgung gibt es in diesen Massenunterkünften nicht. Ähnliches berichtet mir mein syrischer Freund Ali, der mit seiner Familie in wieder ein anderes Lager gebracht wurde. Er schickt mir Fotos von schmutzigen Zelten auf nacktem Betonboden in einer alten Fabrikhalle. Ich verstehe nicht ganz, bis ich ihn nach Wasser und sanitären Anlegen frage. „Ya, just tent, no water, nothing“, antwortet er. Ich bin fassungslos. Haben sie die Menschen tatsächlich in eine leere, entlegene Halle gebracht ohne irgendetwas außer abgenutzten Zelten bereitzustellen?
Angeblich sollen ein paar wenige Unterkünfte etwas besser ausgestattet sein. Ich stelle einige Tage später einen schriftlichen Antrag auf einen Besuch als Journalistin. Keine Chance. Nach zwei Tagen bekomme ich einen Negativbescheid für drei Camps. Sie seien momentan noch nicht ordentlich organisiert, daher dürfe ich sie noch nicht besuchen. Auf die Erlaubnis für die vierte Unterkunft warte ich noch immer.
Idomeni , 26. Mai 2016

Letzter Tag der Räumung. Sou hilft ihren Freunden beim Packen. Trägt Tasche für Tasche in den großen Militärbus. Erst kurz vor Schluss wird ein Polizist auf sie aufmerksam, fragt nach sie ihren Personalien. „She is family“, ruft ihre Gastmutter dem Mann zu. Sou reagiert gar nicht, sondern packt in aller Ruhe das letzte Gepäckstück in den Bus, dann umarmt sie ihre syrischen Freunde zum letzten Mal. Sie weint. Erst dann wendet sie sich dem Beamten zu, und lässt sich abführen.
Sou wird aufs Polizeipräsidium gebracht. Sie sieht, dass drei andere Ehrenamtliche ebenfalls auf der Station festgehalten sind. Später erfährt sie, dass die griechischen Beamten ihnen die Handys abgenommen und erst drei Stunden später zurückgegeben haben. Die Berlinerin versteckt die Speicherkarte in ihrem BH. Ihr Handy darf sie behalten. Im Verhörraum will der Polizeibeamte wissen, wie, mit wem und mit welcher Organisation sie nach Griechenland gekommen sei. Wer der Verantwortliche ist. Sou sagt, dass sie ein „independent volunteer“ sei und auf eigene Verantwortung agiere. Der Polizist glaubt ihr nicht, er will Namen und Adressen wissen. Auch die von ihrem alten Arbeitgeber in Berlin und ihren Eltern. „Das muss ich Ihnen nicht alles sagen“, sagt sie. Der Beamte hebt den Ton, er schreit fast: „Wenn ich Sie frage, haben Sie zu antworten. Sie werden mir jetzt Namen nennen!“ Irgendwann geht er aus dem Raum. Der nächste Polizist kommt herein. Stellt exakt dieselben Fragen und ist auffallend freundlich dabei. Bad cop, good cop, denkt Sou. Der Beamte verlässt den Raum, der nächste kommt herein, stellt haargenau dieselben Fragen, diesmal ganz sachlich. Die Berlinerin kommt sich vor wie in einem schlechten Hollywoodfilm. Eineinhalb Stunden später darf sie gehen.
Polykastro/Thessaloniki/Polykastro, 27. Mai bis 4. Juni 2016
Ein paar Tage bin ich außer Gefecht gesetzt. Ich möchte mit meiner neuen Kooperationspartnerin und ihrer griechisch-amerikanischen Familie abends in Thessaloniki ausgehen. Nach dem Kirchgang – meine neuen Bekannten sind Baptisten und der Vater Pfarrer – werde ich krank. Unfähig zu irgendeiner Aktion außer Schlafen und Wasser trinken verbringe ich zwei Tage und Nächte im Gästebett einer, mir fast fremden Familie. Mir geht es schlecht und doch bin ich dankbar. Dankbar nicht einer verschmutzten Fabrikhalle ohne Wasser und Toiletten malade sein zu müssen.
Wieder zurück in Polykastro bin ich erleichtert, dass das improvisierte Lager an der E 75 noch nicht zwangsgeräumt ist, wie von den Politikern angekündigt. Meine Freundin aus Aleppo sagt, dass ich sie mich vermisst habe: „You are my best friend.“ Ich merke, dass es schön ist, vermisst zu werden. Dann kommt das Gewitter. Das vieles reinigt, Neues entzündet und alte Sehnsüchte aus dem Dornröschenschlaf küsst.
Wenige Stunden bevor es donnert, passiert es. Wenige Stunden, bevor zum ersten Mal in meiner Anwesenheit jemand das Klavier im Park Hotel dazu nutzt, um eine Melodie darauf zu spielen. Anstatt auf irgendwelchen Tasten herumzuhauen.
Das Bild am am Horizont wandelt sich. Der Himmel trägt sämtliche Nuancen von Hellblau bis Anthrazitgrau. Wolken türmen sich auf, sie sehen aus wie die aufgeblasenen Backen der Engel von Raffael. Sanft fächert sich die Abendsonne hindurch.
Für den Bruchteil einer Sekunde blicke ich ihm zu lange in die Augen. Wir kennen uns. Flüchtig. Ich weiß noch, dass er sich nie meinen Namen merken wollte. Dass mich das ein bisschen geärgert hat. In diesem Augenblick ist das egal. Er strahlt mich an. Ich strahle zurück. Smalltalk. Ich habe keine Zeit. Gar keine Zeit. Aber dieser Moment ist schön, und dieser Mensch ist schön. In genau diesem Augenblick. Ich bin im Jetzt angekommen. Der Raum, den ich betrete, ist sonnendurchflutet. Und die schwere Tür der Vergangenheit fällt hinter mir zu. Endlich. Eine fast schlaflose Nacht noch schwebe ich ein paar Zentimeter über dem Boden. Und dann falle ich wieder zurück auf die Erde.