Unsere Schreibhainkollegin und Autorin Julia Christ bloggt live aus Idomeni Teil III
28. April bis 14. Mai 2016
Polikastro
Foto von Julia Christ – Autorin & Schreibhaindozentin
In einer der nächsten Nächte werde ich von einem Ungeheuer geweckt. Es schnaubt, ächzt und röhrt. Unweigerlich kommt es näher, wird lauter. Schließlich rumpelt und klirrt es, saugt Blech, Plastik, Glas und Essensreste in seinen Schlund. Die Müllabfuhr. Nur wenige Stoffschichten trennen mich noch von dem Müllwagen. Meine einzige Schutzschicht sind Zeltwände aus Nylon, umspannt von einer Wolldecke sowie einer Plastikplane.
Neben mir im Zelt liegt meine Gastgeberin Perween, tiefschlafend. Fatmas 24-jährige Tochter scheint die Geräusche im Flüchtlingslager an der E 75 gewohnt zu sein. Ich sehe erst auf die Uhr und dann nach draußen. 5 Uhr 38. Der Himmel ist in ein wildes Muster aus Schwarz, Blau und Orange gekleidet. Richtung Thessaloniki geht die Sonne auf. Noch immer brettern Schwerlaster alle paar Minuten an den dünnen Behausungen vorbei. Noch immer liegt der Geruch von verbranntem Plastik in der Luft. Mangels Kohle oder Holz verbrennen einige Leute alles, was sie nicht mehr brauchen: kaputte Schuhe, Papier und Plastikflaschen.
Wenige Stunden später gibt es Frühstück: Duftenden, griechischen Kaffee und Riegel aus Sesam und Honig. In den nächsten Wochen folgen weitere Nächte im Zelt. Ich telefoniere mit diversen Brüdern, Onkeln, einer Ehefrau sowie einem 17-jährigen Sohn und dessen Freundin in Deutschland. Die Familie ist groß, und sie lebt kreuz und quer nördlich der Alpen verteilt. Am Anfang bringe ich alle durcheinander, aber nach und nach kriege ich die Puzzlestücke zusammen. Wochen später kann ich sogar auch unter Perweens Freundinnen unterscheiden, weiß, wer Kusine und wer tatsächlich Freundin ist. Die Familie sind kurdische Syrer. Sie gehört zu der Gruppe der Jesiden, einer religiösen Minderheit, die Elemente des Christentums, des Islams und des Judentum miteinander vereint.
Anders als Fatma und ihr Mann möchte Perween nicht in Deutschland leben, sondern bei ihrem Verlobten in Dänemark. Das junge Paar hat sich neun Monate nicht gesehen. Ich bewundere den Gleichmut, mit dem die 24-Jährige das Warten erträgt. Auch ihre Tante Roushin drei Zelte weiter ist sehr tapfer. Sie harrt mit Mann und Tochter schon seit Monaten in Griechenland aus, während ihr 17-jähriger Sohn seit über einem halben Jahr bei den Großeltern in Deutschland lebt. Natürlich vermissen sie einander. Ich spüre ihre Traurigkeit, auch wenn sie nicht ausgesprochen wird. Seit Die Familie ist wie alle anderen über 50.000 Flüchtlinge in Griechenland gefangen.
Um aus einem der Flüchtlingslagern herauszukommen, müssen die Menschen einen Asylantrag stellen. Doch für diesen Antrag ist momentan eine Terminvereinbarung via Skype nötig. Für arabisch sprechende Flüchtlinge stehen pro Woche nur eine bis zwei Stunden zur Verfügung, um diesen Anruf zu tätigen. Doch das Internet fällt immer wieder aus, die Leitungen sind überlastet oder es hebt niemand ab. Anfang nächsten Monat soll es zusätzlich zu den Skype-Telefonaten persönliche Vor-Registrierungen geben. Die sind aber nur in den neu installierten Militärlagern möglich und und müssen erst einmal in die Gänge kommen. Noch stehen die Pläne dafür nur dem Papier. Und von der Vor-Registrierung über den eigentlichen Asyltermin bis zur tatsächlichen Ausreisevergehen wieder mehrere Monate. Wertvolle Monate. Lebenszeit.
15. bis 21. Mai 2016
Idomeni
Foto Julia Christ
„Wir wollen ein Leben haben“, sagt Walled, den ich drei Wochen später in Idomeni kennenlerne. Auch er kommt aus Aleppo. Der 25-Jährige lebt ohne Familie in Europas größtem Flüchtlingslager. „Wir wollen arbeiten, in einem Haus leben, eine Familie gründen. Wir sind jung, verstehst du?“ Sein Freund Mohamed, 27, nickt und zieht an seiner Zigarette.
Wir sitzen zu dritt auf einem der durchgesessenen Stühle in Baggelis Taverne, einem Café am Rande des inoffiziellen Flüchtlingslagers. Es gibt Kaffee, versalzenes Omelett und eine defekte Musikbox. Die Taverne ist hauptsächlich von Männern bevölkert. Sie rauchen, laden ihre Handys auf oder spielen Karten. Um mich herum wird nur Arabisch gesprochen. Aus einem Handy tönt pakistanische Musik.
Mohamed spricht mich auf Englisch an. „Are you busy?“, fragt er freundlich. „Was meinst du damit?“ – „Hast du Zeit, dich kurz mit uns zu unterhalten?“ – „Ja. Warum nicht?“ Dann reden wir. Erst eine, dann zwei und schließlich vier Stunden. Mohamed erzählt, wie wütend er ist, seit er erfahren hat, dass Hunde in Griechenland innerhalb von drei Tagen registriert würden und sofort einen offiziellen Pass bekämen. „Sind wir weniger wert als Hunde?“, fragt er, und ich habe keine Antwort.
Mohamed und Waleed berichten von ihren früheren Leben, als sie noch als Informatiker oder als Hotellogistiker gearbeitet haben. Von ihren Vorstellungen von Familie und Liebe. Dass Liebe doch für immer sein sollte. Dass ihnen mittlerweile Kleidung und Geld ausgehen. Dann spendieren sie mir eine Banane, die sie gerade gekauft haben. Die Erzählungen der beiden Männer oszillieren zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Wenn sie von ihrer Wut sprechen, klingt sie sehr moderat.
Weniger moderat ist der Zorn eine Woche später, als die Frustration einiger Menschen in Aggression umschlägt. Ein paar Männer versuchen, mit einem alten Eisenbahnwaggon den Grenzzaun nach Mazedonien zu durchbrechen. Steine und Blendgranaten fliegen durch die Luft. Tränengas strömt über die Felder. Flüchtlinge und freiwillige Helfer, Alte und Kinder rennen weg. Und werden doch vom Gas getroffen. Dani, der als freiwilliger Helfer in Idomeni arbeitet, erzählt später, dass er das Gefühl hatte, sterben zu müssen. Stattdessen erbrach er sich.
Am Tag danach brennen ein paar Zelte. Wer das Feuer gelegt hat, weiß niemand. Vielleicht war es auch eine Blendgranate der Polizei. Dann regnet es wieder einmal. Stundenlang